ISBN: 978-3-00-080647-6
Laura Beck – Jürgen Neitz
Ein steiniger Weg
mit freundlicher Unterstützung von
Helmut Uhlig und Birgit Kugel Uhlig
Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazubekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das Wenige genommen.
Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben -
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
haben nur, die etwas haben.
Heinrich Heine, Weltlauf.
PROLOG – 2021, Grainau.
Um Punkt 21 Uhr an einem Samstagabend Anfang Januar, auf die Minute genau, als die pandemiebedingte Ausgangssperre beginnt, biegen wir mit dem Auto auf den Wanderparkplatz, stellen den Motor ab und löschen das Licht. Um uns nur Wald und Schnee und Dunkelheit. In uns der Puls, den man spürt, wenn man dabei ist, etwas Verbotenes zu tun. Wir steigen schweigend aus dem Wagen, schnüren unsere Wanderschuhe und schultern die Rucksäcke. Wir wollen auf dem Berg übernachten. Vor uns liegt der Hohe Ziegspitz, 1864 m ü. NHN. Und: die kälteste Nacht des Jahres. Das Erste wissen wir. Das Zweite nicht.
Der Weg führt schnell steil bergauf, das Rauschen der Loisach entfernt sich und weicht der windlosen Stille des Bergwaldes. Der Schnee knirscht unter den schweren Stiefeln und unsere Lungen keuchen, als würden sie jedes Mal ein wenig erschrecken, wenn die eisige Luft sie erreicht. Ab und zu knackt etwas im Wald. Ein Abenteuer wollen wir, eine Herausforderung, irgendwas vom Leben spüren, nach einem knappen Jahr in Lockdowns und Isolation. Keine Nacht eingesperrt in der Wohnung, sondern eine Nacht in Freiheit.
Wir steigen durch‘s Gelbe Gewänd, tagsüber eine golden leuchtende Felswand, jetzt eine schwarze Masse, die uns entgegen kippt. Dann endlich lichtet sich der Wald. Der Mond scheint so hell, dass wir unsere Stirnlampen ausknipsen und die Berge betrachten – Schattenrisse im weißblauen Licht. Wir steigen weiter, es dauert nicht mehr lang, bis sie sich vor uns ausbreitet: die Stepbergalm. Hier wollen wir unsere Biwaks ausrollen, auf 1600 Metern. Auf der anderen Seite des Tals, noch einmal fast 1400 Meter höher, leuchtet die Bergstation der Zugspitze zu uns herüber.
Die Hütte ist, wie jeden Winter, geschlossen. Ihre Fenster sind verrammelt, die Terrasse vereist. Es ist zu kalt, um den Campingkocher zum Laufen zu bringen, das Gas ist gefroren. Bei dem Versuch, das Feuerzeug zu bedienen, frieren mir sofort die Finger ein. Auf unseren Rucksäcken hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. Einatmen tut in der Nase weh. Es ist viel kälter, als erwartet. War es eine dumme Idee? Sollten wir nicht lieber wieder ins Tal zurückgehen, nach Hause fahren, auch auf die Gefahr hin, von der Polizei angehalten und für das Brechen der Ausgangssperre bestraft zu werden? Aber zwei Stunden im Dunkeln bergab auf einem vereisten Bergpfad zu stolpern, erscheint uns auch nicht klüger.
Also breiten wir unsere Isomatten auf dem eisigen Boden aus und rollen die Biwak-Schlafsäcke darüber. Dann der schlimmste Teil: Ich ziehe Schuhe, Schneehose und Jacke aus und stopfe alles in den Schlafsack, damit die Sachen nicht einfrieren. In meiner Thermo-Unterwäsche krieche ich hinterher und ziehe den Reißverschluss zu, bis nur noch meine Nasenspitze herausschaut. Dann liege ich still und warte. Meine Muskeln zittern weiter wie verrückt, mein Körper schafft es nicht, den Schlafsack von innen zu wärmen. Menschenfeindliche Bedingungen. Eine hirnrissige Idee, sich dem freiwillig auszusetzen. Es ist besonders kalt, aber ist es lebensgefährlich kalt? Riskieren wir gerade, nicht mehr aufzuwachen, sollten wir einschlafen? Merkt man eigentlich, wenn man erfriert? Ich bibbere und denke an meine Wohnung und an mein warmes Bett. Und dann denke ich an Jürgen.
Jürgen liegt wahrscheinlich auch gerade in seinem Schlafsack. Nicht auf einem Berg in den Voralpen, sondern irgendwo zwischen Karlsplatz und Karolinenplatz, in der Nähe der Hochschule München, in einem Lieferanteneingang. Sein Schlafsack ist nicht so teuer und High-Tech, wie meiner, und seine Isomatte ist nur dünner, zerfledderter Schaumstoff. Und trotzdem schläft er da, draußen, Sommer wie Winter, seit zwölf Jahren. Ob er sich an die Kälte gewöhnt hat, selbst an diese schlimmste, eisigste, in-alle-Knochen-kriechende Kälte? Kann man sich daran überhaupt gewöhnen?
Das erste Mal sah ich ihn ein paar Monate vor dieser Nacht, Ende Oktober 2020, er stand in der Schlange an der Kaffeeausgabe vor der Bahnhofsmission am Münchner Hauptbahnhof. Er fiel mir sofort auf, weil er einen drängelnden jungen Mann hinter sich, vielleicht stammte er aus Eritrea oder Somalia, anherrschte: ob man ihm in seinem Heimatland keine Manieren beigebracht habe? Er wirkte zornig, in seinem gefütterten blauen Parka, mit dem großen Rucksack, an dem ein Regenschirm festgeschnallt war, und unter dem eine „Snipes“-Plastiktüte voller Pfandflaschen baumelte. Neben mir drehte mein Kameramann Bilder von der langen Schlange und ich kaute auf den Fingernägeln herum: Ich hatte schon mit mehreren Obdachlosen gesprochen, viele sprachen kein Deutsch, manche waren schon jetzt am Vormittag betrunken, andere redeten wirres Zeug. Niemand schien mir besonders gut für ein Fernsehinterview geeignet. Wir hatten das Interview mit der Sozialarbeiterin im Kasten und die Bilder mit dem Autor des Buches, um das es gehen sollte: Markus Ostermair, „Der Sandler“. Ostermair hatte seinen Zivildienst in der Bahnhofsmission geleistet und dann über acht Jahre lang einen 300 Seiten dicken Roman über Obdachlose in München geschrieben, und natürlich musste man sich als Journalistin jetzt, mitten in der Corona-Pandemie, die Frage stellen: Wenn alle zu Hause bleiben sollen, wohin gehen eigentlich die, die gar kein Zu Hause haben? Über alles Mögliche wurde verhandelt: geschlossene Kitas, abgesagte Kulturveranstaltungen, nicht geschnittene Haare. Aber kaum jemand sprach über die Obdachlosen. Wenn sie auf einer Parkbank einnickten, wurden sie aufgefordert, zu gehen. Nicht sitzen bleiben! Wenn sie sich in den U-Bahnhöfen aufwärmten, wurden sie aufgefordert, zu gehen. Keine Menschenansammlungen! Aber wo gingen sie hin? Die Obdachlosenunterkünfte hatten, eine nach der anderen, ihre zu kleinen Aufenthaltsräume geschlossen. Abstand halten! Auch in der Münchner Bahnhofsmission bekamen sie nur noch heißen Kaffee oder Tee zum Mitnehmen durch ein kleines Ausgabefenster, dazu eine Brezel. Eine Armada von Menschen, die tagein tagaus ihre Runden ziehen mussten, immer in Bewegung. In München, dieser viel zu teuren Großstadt, gelten fast 9000 Menschen als wohnungslos. Etwa 550 von ihnen schlafen jede Nacht unter Brücken, in Unterführungen oder Hauseingängen. Manchmal reicht ein Schicksalsschlag, der einen aus dem Hamsterrad schleudert. Job verloren / Scheidung / Krankheit / Depression / Schulden; drei Monate die Miete nicht gezahlt, und tschüss.
Die Sozialarbeiterin riss mich aus meinen Gedanken: „Ich habe jemanden für Sie, der bereit ist, sich filmen zu lassen.“ Neben ihr stand der Mann mit dem Regenschirm am Rucksack, hängende Schultern, mit Maske und Mütze, in der linken Hand ein Pappbecher mit schwarzem Kaffee. „Jürgen ist super, der hat Erfahrungen mit der Presse“, sagte die freundliche junge Frau. Mein zweiter Eindruck: Jürgen sah traurig aus. Wir verabredeten uns für zwei Tage später, vor der Teestube, einer anderen Obdachloseneinrichtung im Schlachthofviertel, 14 Uhr. „Der kommt doch nie“, sagte mein Kameramann.
Er kam, auf die Minute pünktlich. Wir zogen los durch die Stadt, Jürgen fing gleich an, zu erzählen, er sprach mit warmem Mecklenburger Dialekt und guckte dabei in jeden Papierkorb und steckte seine Hand in jeden Parkautomaten, auf der Suche nach Pfandflaschen oder Münzen. Er tat das beiläufig, automatisiert, ohne das Reden zu unterbrechen. Fragen, die er stellte, beantwortete er sofort selbst: „Ich bin so’n Hans-Dampf-in-allen-Gassen gewesen, kennen Sie dat? Ja. Ich konnte alles.“ Er zündete sich einen Zigarillo an. „Ich hab wo’s Arbeit gab mit Händen und Füßen mich immer gemeldet – aber nur was ich konnte, Malern, Tapezieren, Fliesen, war nix für mich.“ Es sprudelte nur so aus ihm heraus, Fragmente seines Lebens, unzusammenhängend. Er unterbrach sich in einer Geschichte und wechselte übergangslos in eine andere, hielt inne, bog ab, zirkelte zurück zu etwas vorher Gesagtem.
Ich verstand so viel: Ein Waisenkind war er, im Heim aufgewachsen in der DDR, aber das sei nichts Schlechtes gewesen, keinesfalls, nicht bei ihm, die Tanten hätten sich immer gut gekümmert, später habe er sie seine ‚Mütter‘ genannt; Binnen-Fischer habe er gelernt, an der Müritz, dann, nach dem Mauerfall, LKW-Fahrer, Möbeltransporte durch ganz Europa, allen Leuten um sich herum habe er immer geholfen, aber wenn einem dann aus dem Nichts eine sagt man sei der schlechteste Mensch auf der Welt, ein Niemand? Von einem Tag auf den anderen habe er aufgehört zu arbeiten. Sein Leben sei in einem schwarzen Loch verschwunden, wie erstarrt sei er gewesen. „Geht schnell heute“, sagte er, „dass einer alles verliert, was er sich aufgebaut hat.“ Er machte eine kurze Pause. „Also ob da einer vor gefeit ist, weiß ich nicht.“ Was genau das schwarze Loch war und wer es geöffnet hatte, sagte er nicht. Ich wagte noch nicht, nachzufragen.
Seit zwölf Jahren lebe er nun auf der Straße. Nie gebettelt habe er, darauf legte er wert, er finanziere sich selbst, durch’s Flaschensammeln. „Nur Plastik, kein Glas. Da machst du dir für 8 Cent den Rücken kaputt.“ Jetzt kramte Jürgen einen Brustbeutel unter seinem dicken Wintermantel hervor. Er fingerte zusammengefaltetes Papier heraus, ausgedruckte E-Mails und Briefe von Menschen aus seiner Vergangenheit, alles Leute, die in den letzten zehn Jahren mal nach ihm gesucht haben. Er hat sie schon so oft auseinander- und wieder zusammengefaltet, dass sie entlang der Knicke gerissen sind. Jürgen fing an zu weinen. Er breitete die Briefe vor uns auf der Parkbank aus, wie als Beweis: „Irgendwas muss ich doch richtig gemacht haben, im Leben, dass Leute mich suchen.“ Er weinte oft an diesem Tag.
Ich las eine der E-Mails:
Wer ist Helmut? Hast du reagiert? Jürgen antwortete nicht. Wir saßen an der Theresienwiese, ein kühler, grauer Herbsttag. Die Zelte des Oktoberfests waren abgebaut und der Wind blies die Blätter von den Bäumen. Jürgen rauchte. Unser Gespräch hatte längst den Rahmen dessen, was ich für meinen sechsminütigen Film benötigte, gesprengt. Ich versuchte es noch einmal: Wenn dich Leute suchen – warum schläfst du weiter auf der Straße? „Hilfe annehmen ist schwer, weil ich ja keine Gegenleistung… Ich hab ja nix.“ Er zog am Zigarillo. „Wer mir helfen will, muss Zeit investieren. Das weiß ich. Und ich bin bestimmt nicht der Einfachste.“ Er kam mir reflektiert vor, für jemanden, der sich in einem sozialen Ausnahmezustand befand. „Nach Hause zurückgehen geht nicht, wenn die Leute mich so sehen… mein bester Freund…“ Jürgen kamen wieder die Tränen, „Moses, der Kapitän. Wenn der mich so sehen würde, das wär schlimm. Der kennt mich ja immer nur am Arbeiten.“ Welcher Kapitän, Jürgen? „Na, von der Warener Schifffahrtsgesellschaft.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. Ich fragte ihn, ob er uns zeigen würde, wo er schläft. Nein, er habe lange nach so einem guten Platz gesucht und wolle nicht vertrieben werden. Er wollte uns lieber etwas anderes zeigen.
Wir liefen zum „Café Kustermann“ an der Lindwurmstraße. Das Café war, wie alle Gastronomie-Betriebe, coronabedingt geschlossen. Jürgen klopfte an die Tür und spähte ungeduldig durch die Scheibe, er hatte uns angekündigt. Eine junge Frau öffnete. „Jürgen!“, sie strahlte, „komm rein.“ Er zeigte uns das hölzerne Spendenbrettchen namens „hey“ auf der Theke: Kunden können, wenn sie sich einen Kaffee oder einen Kuchen kaufen, ein bisschen mehr Geld bezahlen. Die Summe wird als Spende an das Brettchen gehängt und Obdachlose können sich damit etwas kaufen. Das fände er eine gute Sache, sagte Jürgen. „Da fällt mir ein,“ rief die Café - Betreiberin, „ich hab was für dich!“ Sie lief nach hinten und kam mit einer Packung Plätzchen zurück. „Du hast doch bald Geburtstag!“ Jürgen schniefte. „Ja? Weiß ich gar nicht so genau.“ Ich wunderte mich zunehmend über diesen obdachlosen Mann.
Nach vier Stunden verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung, Jürgens Unterlippe bebte, er bedankte sich für unser Interesse und drehte sich schnell um, bevor die Tränen wieder einschossen. Während er mit rundem Rücken davonlief, in Richtung seines Schlafplatzes, zündete er sich einen Zigarillo an.
Zu Hause googelte ich „Warener Schifffahrtsgesellschaft“. Auf der Website der „Blau-Weissen-Flotte“ klickte ich auf das Impressum und las: „Geschäftsführer: Wolf-Dieter Schott“. Auf Facebook scrollte ich durch Fotos: ein
Bilderbuch-Kapitän, rundlich, freundlich und mit dichtem Vollbart.
Auf einem Foto des „Müritzportals“ schob er eine alte Frau im Rollstuhl auf‘s Schiff, dazu der Text: „Wolf Dieter Schott, für viele als Moses bekannt, kreuzt seit vielen Jahren über die Seen der Mecklenburgischen Seenplatte. Der Geschäftsführer der Blau - Weisse Flotte Müritz & Seen und Kapitän der MS Warsteiner zeigt aber auch seit vielen Jahren immer wieder sein soziales Engagement. So auch heute. Bewohner der Pflegeheime am Kietz und am Sinnesgarten konnten heute kostenfrei eine zweistündige Bootstour über die Müritz und den Kölpinsee genießen. Bevor die Reise losging, packte Moses kräftig mit an und half, die Senioren, die mit Rollstühlen unterwegs sind, an Bord zu holen.“
Was würde der Mann sagen, wenn er erführe, dass fast achthundert Kilometer südlich von Waren, in der Münchner Innenstadt, sein bester Freund obdachlos auf der Straße liegt? Ich dachte darüber nach, Wolf-Dieter Schott anzurufen, auch ohne Jürgen um Erlaubnis zu fragen. Dann begann ich, das Interview zu transkribieren. Während ich las, grübelte ich, was Jürgen von den anderen Obdachlosen, die ich für die Recherche angesprochen hatte, unterschied. Sein Ausbruch vor der Bahnhofsmission wollte nicht zu dem Mann passen, den ich danach kennengelernt hatte: nachdenklich, reflektiert, verletzlich. Dann fiel es mir ein: Jürgen, das hatte er erzählt, hat noch nie Alkohol getrunken. Auch in zwölf Jahren Obdachlosigkeit nicht. Er war vollkommen klar.
Der kurze Film über den Roman und Jürgen lief Anfang November im Bayerischen Fernsehen. Tags darauf rief der Leiter der Teestube an, Jürgen stünde neben ihm, ob er mir „Feedback geben“ dürfe. Ich bejahte. Jürgen meinte, der Film habe ihm gut gefallen, nicht aber, dass ich seine Heimatstadt als „Dorf“ bezeichnet habe, Waren-Müritz habe eine ordentliche Größe. Ich entschuldigte mich. Wir wünschten uns alles Gute und legten auf.
Wenn ich ganz ruhig liege und ganz langsam atme, wird es doch ein wenig warm im Schlafsack. Wenigstens höre ich irgendwann auf, zu zittern. Bevor ich weg döse, frage ich mich, ob es hier oben auf dem Berg wohl Füchse gibt. Ich stelle mir vor, wie ein Fuchs uns hier liegen sieht, zwei lange dunkle Bündel, die da nicht hingehören, herangeschlichen kommt und vorsichtig am Biwak entlang schnüffelt. Ab dann traue ich mich nicht mehr, die Augen aufzumachen, in ständiger Erwartung, dem Fuchs direkt in seine Schnauze zu blicken.
Als ich aufwache, ist der Himmel tiefblau. Wir rollen unsere Biwaks zusammen und steigen die letzten Meter auf den Gipfel. Hinter der Zugspitze arbeitete sich die Sonne empor und wärmt sofort alles auf, wir lachen erleichtert in unsere Selfies. Im Autoradio auf dem Rückweg sprechen sie von der „kältesten Nacht des Jahres“, minus 15 Grad. Ein dummes und ein heldenhaftes Abenteuer. In München hat der Kältebus warmes Essen und Decken an die Obdachlosen verteilt. Ich frage mich, ob Jürgen von solchen Angeboten Gebrauch macht.
Ich rufe in der Teestube an. Dort sagt man mir überraschend, Jürgen sei seit Ende Dezember in einem Männerwohnheim an der Pilgersheimer Straße untergebracht. Ich rufe dort an. Lebt ein Jürgen Neitz bei Ihnen? „Eigentlich darf ich Ihnen zu unseren Bewohnern keine Auskunft erteilen...“ Die Frau an der Leitung blättert durch Unterlagen. „Neitz? Ja, der war hier. Aber er ist nicht mehr da.“ Wo ist er denn hin, frage ich. „Das weiß ich nicht. Aber das passiert leider öfter, dass die Leute sich entscheiden, auf die Straße zurückzugehen.“ Sie legt auf. Jürgen ist verschwunden.
Nur ein paar Wochen später sitzen Jürgen und ich auf einer Parkbank in der ersten Frühlingssonne, zwei Pappbecher schwarzer Kaffee zwischen uns und hunderte Seiten handgeschriebener Zettel auf dem Schoß, ein dickes Paket kariertes Papier. „Mein Leben“, sagt Jürgen, und zieht an seinem Zigarillo.
Das Interview habe viel aufgewühlt, verdrängte Erinnerungen zurückgebracht. Seit ein paar Wochen schreibe er nun, jeden Tag, „und mit jeder Seite erinnere ich mich daran, wer ich mal war.“ Heimkind, Ossi, Arbeiter, Obdachloser.
Jürgen hat klare Vorstellungen: ein Buch soll das werden, ein gutes. Man könnte einen begleitenden Dokumentarfilm machen, ich sei ja Filmemacherin, dazu könnte man nach Waren-Müritz fahren, in seine Heimatstadt, er würde mir das Kinderheim zeigen. Vor allem darum geht es ihm, er will ein Vorurteil geraderücken, nämlich, dass alle DDR-Kinder in Kinderheimen misshandelt und gequält worden seien. Sogar Entschädigungen kann man als ehemaliges Heimkind beantragen, Erwin habe das gemacht, nach der Wende. „Entschädigung wofür“, habe Jürgen ihn gefragt, „wir haben Essen bekommen, Trinken, ein Bett zum Schlafen, maßgeschneiderte Hemden aus der Nähstube, und du beschwerst dich? Die haben uns zwölf Jahre aufgezogen!“ Er schüttelt den Kopf. Er verstehe das nicht. Es sei an der Zeit, diese Dinge klarzustellen. Ja, um das Kinderheim gehe es ihm, und um die Tanten.
Mich interessiert natürlich, wie Jürgen obdachlos wurde. Ich blättere durch die Seiten. Er hat Deckblätter geschrieben: 1954-1975 und 1975-1989. „Keine Sorge“ sagt er, „der Rest kommt noch.“
Ich habe auch etwas für Jürgen dabei, einen Brief aus der Heimat. Die Mail kam vom ARD-Zuschauerservice: eine Dame habe die Wiederholung des Films im NDR „Kulturjournal“ gesehen und Jürgen wiedererkannt. Sie sei mit ihm zur Schule gegangen, andere Kinder aus dem Heim suchten ihn schon seit längerer Zeit. Ob ich helfen könnte, Jürgen zu kontaktieren? Ich gebe Jürgen den Brief.
Jürgen zieht eine Augenbraue hoch. Ich finde den Tonfall auch etwas zu vorwurfsvoll. „Wirst du dich bei ihr melden?“ – „Mal sehen.“
Wir sitzen, schweigen und blinzeln in die Sonne. Die Bank steht an der Ecke Implerstraße, Kyreinstraße. In der Kyreinstraße wohnt Jürgen jetzt, in einem katholischen Männerwohnheim. Er ist von der Pilgersheimer, wo sie ihn Mitte Dezember für sieben Euro die Nacht einquartiert hatten, damit er nicht erfriert, hierhin umgezogen. Ein Kollege (also ein anderer Obdachloser) hatte ihm erzählt, dass ein Zimmer frei wird, eins mit einem eigenen Bad. Jürgen und seine Sozialarbeiterin aus der Teestube haben es sich gemeinsam angesehen. Es ist nicht groß, vielleicht 10 Quadratmeter, ein Einzelbett, ein kleiner Tisch, an dem Jürgen schreibt, ein Duschbad. Jetzt auch eine Topfpflanze, die habe ich Jürgen mitgebracht, „damit du was hast, worum du dich kümmern musst“.
Jürgen hat gelacht und gemeint, er habe genug zu tun. Er stellt sie auf die Fensterbank. Auf jeder Etage gibt es eine Küche, eine Waschmaschine und einen Trockner. Jürgen musste noch seine ganzen Sachen vom Schlafplatz holen, denn den hatte er zur Sicherheit behalten (im Pilgersheimer Wohnheim gefiel es ihm nicht besonders). Dann zog er, nach zwölf Jahren auf der Straße, in diesen Raum mit vier Wänden und einer Decke. Mitte Januar war das, ganz genau: am 20.01.2021. Kurz darauf hatte er mich angerufen, die Nummer hatte ihm die Teestube gegeben: „Ich will, dass du es als eine der ersten erfährst – ich habe ein Zimmer.“
Es ist ein Wunder. Die absolute Ausnahme. Ein Glücksfall! Die wenigsten schaffen es von der Straße, und erst recht in diesem Alter. Die meisten saufen sich zur Besinnungslosigkeit und erfrieren eines Winters, oder sie sterben an Organversagen im Krankenhaus. Die Bestattung bezahlt dann die Allgemeinheit, Einäscherung, Urne, Holzkreuz, nur manchmal kommen Leute von der Obdachlosenhilfe und sagen zwei Sätze, die sich weniger mit dem Gestorbenen selbst, als vielmehr mit der Tatsache von so bitterer Armut in einem so reichen Industrieland beschäftigen. Der Tote ist ein Symbol für das Versagen eines sozialen Staates, und sein Tod so einsam und kalt, wie das Leben auf der Straße es gewesen ist. Selbst, wenn man noch versucht, jemanden unterzubringen – viele können das gar nicht mehr: Wohnen. Sie haben schlicht verlernt, wie das geht und wie sich das anfühlt, die Stille in einem Raum. Sie haben sich an den Geräuschpegel und den Rhythmus der Straße gewöhnt, an das draußen sein, an die Öffnungszeiten der unterschiedlichen Suppenküchen und Wärmestuben. Auch Jürgen haben die Sozialarbeiter schon ewig versucht, von der Straße zu kriegen, aber er hatte sich immer geweigert. In „Massenunterkünfte“ für Obdachlose wollte er nicht, Sechs- oder Achtbettzimmer, die Leute schnarchen, rülpsen, pfurzen, sie stänken nach Alkohol und – Zitat Jürgen – „als würden sie in einer Mülltonne leben“, er habe mal gehört, dass einer besoffen einen schlafenden Mann angepisst hätte. Leute würden beklaut und wenn sie aufwachten, seien die wenigen Habseligkeiten, die sie am Abend vorher unters Bett gestopft hatten, einfach weg. Es gäbe Prügeleien und Geschrei bis spät in die Nacht. Obdachlosigkeit ist ein psychischer Ausnahmezustand, und genauso sieht das auch aus. Nicht aber bei Jürgen.
Ein Bus rauscht auf der Implerstraße an uns vorbei. Ich denke an die Nacht auf dem Berg. „Jürgen,“ frage ich, „wie hast du eigentlich die Winter auf der Straße überlebt?“ – „Also erstmal: ich bin gesegnet, ich kann eigentlich überall schlafen. Und dann, bei meinem Platz da war ein Vordach, von oben kam also in der Regel nie Wasser hin, und seitlich auch nicht. Nur wenn der Wind mal drehte und von vorne kam, konnte das auch da mal passieren.“ – „Und dann?“ – „Jo, dann war’s halt mal ne Nacht lang nass, dann musstest du zusehen, dass du am nächsten Tag heiß duschst.“ – „Und bevor du den Platz hattest, also in den ersten Jahren?“ – „Da hab‘ ich dann öfter mal versucht in so einem großen Papiercontainer zu schlafen, also aufklappen, zwischen die Pappen legen, das ist eigentlich ganz gemütlich. Aber es war ein bisschen schwierig, weil man ja sehen muss, wann werden sie abgefahren, nicht dass sie dich aus Versehen mit aufgeweckt hätten beim Abkippen.“ Jürgen lacht aus tiefster Kehle sein kratziges Raucherlachen: hehehehehe. Er verschluckt sich, und trinkt von seinem Kaffee. Er hat keine Zähne mehr im Mund, nur Stumpen, seit zwölf Jahren hat er keine Arztpraxis mehr von innen gesehen. Jürgen weigert sich, HartzIV zu beantragen, um zum Beispiel in eine Sozialwohnung zu kommen. Für ihn ist das gleichgesetzt mit betteln, was er strikt ablehnt. Dazu das Stigma. „Dann muss man sich da nackig machen für irgendwelche 1 Euro-Jobs, ne, das will ich nicht. Ich hab mein Leben lang gearbeitet, da bin ich zu stolz zu“, sagt er. Er lebte also all die Zeit vom Pfand sammeln und den Angeboten der Obdachlosen-Objekte, und schlief allein, draußen, im Lieferanteneingang. Bis jetzt.
Was hat sich geändert? „Ja, das ist so…“, er zieht am Zigarillo, „weil ich es nun selbst finanzieren kann. Im November 2020 bin ich ja 66 geworden, nicht? Und da kommt meine Sozialarbeiterin zu mir und meint, ich könne ja Rente beantragen. Die hab ich mir ja erarbeitet, also vor der Obdachlosigkeit. Also sag ich, nu, das können wir mal versuchen. Und dann hat die da einiges an Anträgen ausgefüllt und jetzt bekomme ich Rente und von der Rente zahl ich das.“ – „Was kostet das Zimmer?“ – „265 Euro. Im Monat. Rente krieg ich 880 Euro. Bleiben 600 Euro zum Leben.“ Er lacht heiser. „Weiß ich gar nicht was ich mit so viel Geld machen soll.“
Ich finde das gigantisch: kommt der Typ nach so langer Zeit doch echt von der Straße! Mit Mitte sechzig. Ich bin völlig aus dem Häuschen deswegen, das ist doch ein großer Augenblick! Und klar kamen ihm die Tränen, als ich ihn überschwänglich beglückwünscht hatte, aber Jürgen sieht das im Großen und Ganzen, wie alles, eher trocken. „Nu, ich muss natürlich gucken, dass ich nach wie vor meinen Arsch auslüften geh und da nicht versauer, in dem Zimmer. Ist zwar schön, dass es warm ist, aber man vereinsamt auch.“
Jürgen behält deshalb den Rhythmus bei, den er sich in der Obdachlosigkeit antrainiert hat: früh aufstehen, Kaffee holen, Flaschen sammeln. Flaschen abgeben, Essen holen. Er hat das Zimmer auch genommen, weil es fast auf seiner alten Route liegt. Nach wie vor geht er in den Obdachlosen-Objekten vorbei, weil er dort mit alten Freunden reden kann. Außerdem macht er jetzt kleinere Hausmeister-Jobs bei Katharina, im Café „Kustermann“ an der Lindwurmstraße, dort, wo er mit uns zum Filmdreh hingegangen ist. Er hatte Katharina kennengelernt, als er sich über das „hey“-Spendenbrettchen einen Kaffee holen wollte. Es war mitten während der Pandemie gewesen, es gab kaum Flaschen, er musste streng haushalten, konnte sich kaum was leisten. Zweimal schon war er in Cafés mit „hey“-Zettel an der Tür gegangen und hatte die Kassierer auf einen gespendeten Kaffee angesprochen, zweimal hatte er das Gefühl bekommen, unerwünscht zu sein, sich schrecklich geschämt und war geflohen. Er kam sich wie ein Bettler vor und hasste es. Das „Kustermann“ war sein dritter und letzter Versuch. Hier lief er fast täglich auf dem Weg zur Teestube vorbei, und als er den „hey“-Aufkleber an der Tür entdeckte, gab er sich einen Ruck und ging hinein. Katharina, so erzählt er es immer, strahlte ihn von hinter der Theke an, gab ihm zum Kaffee gleich noch einen Kuchen dazu und forderte ihn auf, sich zu setzen. Jürgen war von dieser Freundlichkeit so überwältigt, dass ihm sofort die Tränen kamen – auch, wenn er davon erzählt – doch Katharina versicherte ihm, er könne jederzeit wieder vorbeikommen. Zwei Wochen brauchte er, um wieder genug Mut zu fassen. Nach ein paar Monaten – Jürgen ließ zwischen seinen Besuchen immer zwei, drei Wochen Abstand, um nicht aufdringlich zu wirken – meinte Katharina, er bräuchte keinen Zettel auf dem Brettchen und wies ihre Kellner an: „Jürgen bekommt Kaffee, wann immer er möchte.“ So wurden aus Jürgen, dem Obdachlosen und Katharina, der Café-Besitzerin, Freunde. Sogar in einem Galileo-Beitrag über „hey“ machten sie mit, zusammen mit dem Gründer von „hey“ und einem Spender namens Walter. Den kurzen Film kann man im Internet googeln: Jürgen steht da in seinem blauen, dicken Winterparka und sagt: „Ich hab in meinem Leben immer auf der anderen Seite gestanden. Und da ich wie gesagt kein Geld vom Staat habe und das mit dem Flaschensammeln ein bisschen schwieriger wurde, habe ich mir eben den Mut gefasst…aber wirklich allen Mut.“ Dann fängt er an zu weinen und neben ihm steht eine kleine, junge Frau mit strahlenden Augen und langen, braunen Haaren und sagt: „Ich freu mich immer, wenn du da bist, das sag ich dir immer: ich freu mich, wenn du da bist.“ Jürgen schnieft und nickt.
Jetzt ist Jürgen also so etwas wie Katharinas Hausmeister, er sortiert das Lager um, baut Regale, hilft in der Küche und schraubt Außenbänke zusammen. Die Katharina braucht mich, sagt er, und man merkt, dass das den alles entscheidenden Unterschied macht: Er wird gebraucht. Vielleicht ist die Arbeit im „Café Kustermann“ deshalb sogar wichtiger als das Zimmer im Männerwohnheim. Es ist nicht mehr egal, was Jürgen macht. Ob er aufsteht, oder nicht. Er wird jetzt erwartet. Und dann ist da ja noch das Buch.
Ab jetzt treffen Jürgen und ich uns alle paar Wochen zum Kaffee. Jürgen redet, und ich höre zu. Die Treffen dauern zwischen zwei und vier Stunden, manchmal schreibe ich mit, aber nicht immer. Parallel arbeite ich mich durch seine Geschichte.
Laura Beck